
Ivo Habán
Das Unglaubliche ist wahr geworden. Das Projekt einer grossen Ausstellung, welche die bildende Kunst, Fotografie und Film umfassen würde, und welche wegen Corona bereits 2020 nicht realisiert wurde, hat die Galerie der Hauptstadt Prag aufgegriffen. Nach fast zwei Jahren Vorbereitungszeit wurde sie nun in den einzigartigen Räumlichkeiten der Stadtbibliothek realisiert, wo sie bis zum 25. August zu sehen sein wird. Darüber hinaus wird sie im Herbst 2024 in der Slowakei gezeigt: in einer überarbeiteten Form in zwei parallelen Ausstellungen in der Galerie Peter Michal Bohúň in Liptovský Mikuláš und in der Ostslowakischen Galerie in Košice. Die ursprüngliche Idee, die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Forschung in Form einer Ausstellung zu präsentieren, die eine weniger bekannte Form der Kunst des ehemaligen tschechoslowakischen Raums in der Tschechischen Republik und der Slowakei vorstellt, wird somit erfüllt.
Der konzeptionelle Inhalt der Ausstellung ist das Ergebnis der Überlegungen des Kuratorentrios (Anna Habánová, Helena Musilová, Ivo Habán), die physische Form der Ausstellung wurde von den Architekten Richard Loskot und Rozárka Jiráková gestaltet, während das grafische Design von Jan Havel entworfen wurde, der auch hinter dem Monographieprojekt steht. Das gesamte Team der Galerie der Hauptstadt Prag hat mehrere Monate lang mit uns an der Realisierung gearbeitet, und ich danke ihnen für ihre Geduld und Zusammenarbeit bei der Vorbereitung der Ausstellung sowie für die Chance und das Vertrauen, das sie uns als Kuratoren geschenkt haben. Es war ein großer Aufwand, die 16 Räume der Stadtbibliothek mit 313 sorgfältig ausgewählten Gemälden, Skulpturen, Fotografien, Filmen und Projektionen, einem Stapel Plotter, einer interaktiven Karte, erweiterten Bildunterschriften, Möbeln und anderen Gegenständen von mehr als 50 Leihgebern aus der Tschechischen Republik, der Slowakei und Deutschland zu füllen.
Die Ausstellung wurde am 26. März 2024 eröffnet und die Eröffnung war für mich sehr emotional. In einer schnellen Medienabkürzung von hauptsächlich Lifestyle-Medien und Auflistung verschiedenster Highlights war für einige wesentliche Momente für mich einfach kein Platz mehr. Aber hier ist er. Alle drei Kuratoren sind Absolventen des Brünner Seminars für Kunstgeschichte Philosophischen Fakultät der Masaryk-Universität. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass unsere Lehrer und, ich wage es zu sagen, lieben Kollegen, die Professoren Lubomír Slavíček und Alena Pomajzlová, unter deren Anleitung wir aufgewachsen sind und uns nun in die Rolle von Kuratoren eines großen Projekts hochgearbeitet haben, bei der Eröffnung anwesend waren. Bei der Eröffnung wurden wir auch von Hana Rousová begleitet, die 1985/1986 für die GHMP eine große Querschnittsausstellung zum Neoklassizismus in der tschechischen Kunst kuratierte und 1994 eine der Schlüsselpersonen hinter der inzwischen legendären Ausstellung Lücken in der Geschichte war, die in den Ausstellungsräumen des Hauses erstmals die bis dahin unbekannte Welt der parallel existierenden tschechischen, deutschen und jüdischen bildender Kunst der Zwischenkriegszeit präsentierte. Ich hatte beide Ausstellungen nicht gesehen, ich war damals zehn bzw. siebzehn Jahre alt. Nun stand ich im selben Raum mit Hana Rousová, Alena Pomajzlová und Lubomír Slavíček an meiner Seite. Ich danke allen dreien sehr für ihre Offenheit, ihre Freundschaft und ihre unerschütterliche fachliche Unterstützung, was in der akademischen Welt keineswegs immer selbstverständlich ist.



Ivo Habán
Die Kollektivmonografie Neue Realismen besteht aus 15 Kapiteln, die ein bisher nicht synthetisch bearbeitetes Thema der tschechischen und slowakischen Kunstgeschichtsschreibung verfolgen. Als Ergebnis der mehrjährigen Forschungen eines internationalen Teams von 13 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern präsentiert sie zeitgenössische moderne realistische Ansätze in der bildenden Kunst der böhmischen Länder und der Slowakei im Zeitraum 1918–1945, erweitert um Kapitel zu ausgewählten Aspekten dieser Realismen, die über den gesetzten zeitlichen Rahmen hinausgehen, sowie um Fallstudien aus den Nachbarbereichen Film, Literatur und Musik. Mit der Fotografie erhält ein Medium besondere Aufmerksamkeit, das die zeitgenössische bildende Kunst und deren Visualität entscheidend veränderte. Als Dachbegriff zur Charakterisierung der Fotografie im Untersuchungszeitraum wird der Terminus „Neue Fotografie“ verwendet, den die Konzentration auf das moderne Leben mit den modernen Realismen verbindet. Die modernen realistischen Ansätze werden als Alternative zu programmatisch-innovativen Tendenzen vorgestellt – als einzigartige, von lokalen Bedingungen geprägte Produktion, die mit der zeitgleichen Entwicklung im Ausland korrespondierte. Obwohl sich der Großteil des Kunstschaffens in den böhmischen Ländern und in der Slowakei im Untersuchungszeitraum vor allem an Frankreich orientierte, existierte hier auch eine bemerkenswerte Strömung moderner realistischer Ansätze, die dem aktuellen Geschehen in Deutschland, Italien, den Niederlanden oder den USA entsprachen. Getragen wurden sie häufig von Angehörigen der ethnischen Minderheiten, die – in linearer modernistischer Sicht betrachtet – bis vor kurzem noch als Außenseiter angesehen wurden.
Das Buch erfasst und beurteilt damalige wie heutige theoretische Konzepte. Es verfolgt die tschechische Reflexion des zeitgenössischen theoretischen Rahmens der modernen Realismen, präzisiert die Terminologie und präsentiert an konkreten Beispielen die Besonderheiten und die Zusammenhänge der tschechoslowakischen Produktion mit der ausländischen Entwicklung. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht nicht nur das mit der „Neuen Sachlichkeit“ korrespondierende Schaffen, sondern auch weitere, lokal bedingte Ausdrucksformen moderner Realismen einschließlich der Werke der „Regionalisten“.
—
Neue Realismen
Moderne realistische Ansätze in der tschechoslowakischen Kunstszene 1918–1945
Ivo Habán (ed.), Anna Habánová, Keith Holz, Jiří Horníček, Zsófia Kiss-Szemán, Bohunka Koklesová, Barbora Kundračíková, Jana Migašová, Helena Musilová, Milan Pech, Alena Pomajzlová, Lubomír Spurný, Barbora Svobodová
Grafikdesign und Schriftsatz: Belavenir
280 × 190 mm, 496 Seiten, 580 Farb- und Schwarzweiß-Reproduktionen
Englische Version, deutsche Zusammenfassung
National Institut für Denkmalpflege, Regionalbüro in Reichenberg, 2019
ISBN 978-80-87810-43-9
Die Monographie in englischer Sprache ist im E-Shop des Nationalen Denkmalinstituts erhältlich. Es ist möglich, das Buch in der Buchhandlung des Nationalen Denkmalinstituts und im Informationszentrum im Zentrum von Prag zu kaufen.



Ivo Habán
Paul Gebauer
erhielt Otokar-Fischer-Preis 2020
Monografie Paul Gebauer erhielt Otokar-Fischer-Preis 2020.
Der Otokar-Fischer-Preis Der Preis wird eins an deutschschreibende Autor*innen aus Deutschland, der Schweiz und Österreich für eine außergewöhnliche Forschungspublikation zur bohemistischen germanobohemistischen Thematik, eins an deutsch- oder tschechischschreibende Autor*innen für eine außergewöhnliche Forschungspublikation zur germanobohemistischen Thematik vergeben. Durch den langfristigen Zugang zu den besten Ergebnissen dieser Forschungen im tschechischen Umfeld sollte der Otokar-Fischer-Preis dazu beitragen, den Dialog zwischen tschechischen und ausländischen Fachkreisen zu fördern.
Die Monographie von Paul Gebauer entstand dank der Zusammenarbeit der Editoren Anna Habánová und Ivo Habán mit dem Historiker Branislav Dorko und der Kunsthistorikerin Lenka Valečková (Rychtářová). Das Buch wurde mit Unterstützung der Zuschussagentur der Tschechischen Republik in Zusammenarbeit mit dem Nationalinstitut für Denkmalpflege, der Technischen Universität Liberec, dem Schlesischen Landesmuseum und dem Museum in Bruntál veröffentlicht. Mitglieder der Familie Paul Gebauer, insbesondere Herr Michael Gebauer und Frau Ulrike Gebauer, haben maßgeblich zur Umsetzung beigetragen. Wir bedanken uns für ihre Hilfsbereitschaft, Unterstützung und Begeisterung bei der Bereitstellung der Archivmaterialien. Unser Dank geht auch an die Übersetzerin Anna Ohlidal und den Grafiker Jan Havel, der dem Buch eine einzigartige visuelle Form und Gestalt verleihen hat.
Ivo Habán




Ivo Habán
eine Monographie
Seit mehreren Monaten arbeiten wir an der Monographie des Malers Paul Gebauer (1888-1951), eines aus Zossen gebürtigen deutsch sprechenden Malers aus Schlesien. Seine Arbeit ist gut in zwei schlesischen öffentlichen Sammlungen erhalten und so kann man an die Bände Erwin Müller und Mary Duras anknüpfen. Sein Schaffen war durch postimpressionistische und expressionistische Vorbilder beeinflusst, bis es schliesslich in der Art der Neuen Sachlichkeit sein Höhepunkt fand. Das Buch wird deutsch-tschechisch erscheinen, der Herausgeber ist das Denkmalpflegeamt.
Das Buch kann über den E-Shop des Verlags erworben werden.

Ivo Habán Neue Realismen in der tschechoslowakischen Kunstszene
1918–1945
Obwohl die Neue Sachlichkeit zumindest in den vergangenen drei Jahrzehnten im europäisch-amerikanischen Raum detailliert untersucht worden ist, hat es bisher keinen Versuch gegeben, entsprechend orientierte Werke in der tschechoslowakischen Kunstszene zu identifizieren und zu bearbeiten – einschließlich der Verbindungen zur Fotografie und einer Einordung in breitere Zusammenhänge. Der Grund für diese Ignoranz dürfte in dem Stigma zu sehen sein, das noch aus der Zeit der Totalität an diesen Realismen haftet. Daher ist das künstlerische Schaffen auf dem Feld der neuen Realismen in der Tschechoslowakei nur punktuell, ohne tiefere Verknüpfungen in den Kontext der europäischen Kunst eingeordnet worden, obwohl es sich um einen qualitativ durchaus vergleichbaren Werkbestand handelt.
Im Blickpunkt stehenhier neben den Werken der deutschsprachigen Künstler und Künstlerinnen aus Böhmen, Mähren, Schlesien und der Slowakei auch die progressiven Realismen der Zwischenkriegszeit, die von ihren tschechischen und slowakischen Kollegen vertreten wurden. Berücksichtigt werden von Region und Nationalität geprägte Besonderheiten, wobei eine kritische Abgrenzung der analysierten Werke entscheidend ist. Die Untersuchung konzentriert sich vor allem auf Arbeiten, die im Bereich der traditionellen Medien und der Fotografie entstanden sind; dem letztgenannten Medium fiel bei der Akzeptanz der modernen Visualität durch die breite Öffentlichkeit eine Schlüsselrolle zu.
Neue Sachlichkeit ist ein breiter Dachbegriff, der aus dem deutschen Umfeld stammt. Für die parallel entstehenden neuen Realismen in der Tschechoslowakei wird er nicht allgemein verwendet, da an diesem Begriff das Stigma des germanischen Einflusses auf die tschechische bildende Kunst und Kultur klebt.Daher arbeiten wir mit dem Begriff Neue Realismen, da dieser alle Verständnisnuancen der inhaltlichen und formalen Kennzeichen der Zwischenkriegsrealismen enthält, d. h. den rechten (Neoklassizismus) wie den linken Flügel (Verismus), wie sie Franz Roh 1925 in seinem bahnbrechenden theoretischen Werk Nach-Expressionismus mit dem Untertitel Magischer Realismus – Probleme der neuesten europäischen Malerei definiert hatte; in diesen breiteren Rahmen bezog Roh nicht zufällig mit Georg Kars, Alfred Justitz und Rudolf Kremlička auch Vertreter der Tschechoslowakei ein. Dabei ist der Begriff Neue Realismen nicht neu. Seinen Vorrang gegenüber der Neuen Sachlichkeit verteidigte 1927 etwa der aus Prag stammende Ästhetiker und Kunsttheoretiker Emil Utitz. Eine diesbezügliche Präferenz zeigte auch der französische Kunsthistoriker Jean Clair bei der Konzipierung der großen internationalen Ausstellung Les Réalismes 1919–1939, die 1980 im Pariser Centre Georges Pompidou stattfand.
Ausdrucksformen der Neuen Sachlichkeit als deutsches Phänomen wurden in der Tschechoslowakei überwiegend in einen Kontext mit deutschsprachigen Künstlern und Künstlerinnen gestellt, die nicht selten in den Grenzregionen, an der territorialen Peripherie des neu entstandenen Staates tätig waren. Anhand der bisherigen Forschungen zu dieser Problematik in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit wird deutlich, dass eine Orientierung auf die deutsche Neue Sachlichkeit im Werk der Künstler aus Böhmen, Mähren und Schlesien nachweislich existierte. Dazu zuletzt Anna Habánová im Kapitel „Die Neue Sachlichkeit“ des Projektbandes Junge Löwen im Käfig. Impulse der Neuen Sachlichkeit lassen sich auch bei tschechischen Malern verfolgen, z. B. im Frühwerk von František Muzika, bei den Malern der Vereinigung Sociálnískupina (Ho–Ho–Ko–Ko), František Foltýn, den Malerinnen Milada Marešová und Vlasta Vostřebalová-Fischerová, SvatoplukMáchal, Alfred Justitz u. a. Das Spektrum der modernen Realismen in der Tschechoslowakei ist allerdings wesentlich breiter und wurde bisher noch nicht tiefgehend analysiert. Offen bleibt zum Beispiel die Frage nach Parallelen zwischen der italienischen metaphysischen Malerei und dem magischen Realismus, die Inspiration durch die Bewegung Novecento oder den Kreis um die Zeitschrift Valoriplastici, die auch vermittelt über die deutsche Kunst erfolgt sein könnte. Relativeren lässt sich in gewisser Weise auch der Gegensatz zu den zeitgleich auftretenden Richtungen des Poetismus, des Konstruktivismus und der Abstraktion; dies gilt vor allem im Hinblick auf die nicht-mimetischen Prinzipien, die das Hauptkennzeichen der damaligen Modernität bildeten.
Die Fotografie (und deren Verwendung im Design und in anderen Bereichen der Massenkultur) nimmt im Kontext der Neuen Sachlichkeit eine besondere Stellung ein. Nach dem Ersten Weltkrieg verkörperte die Fotografie (allgemeiner gesagt das technische Bild), die als Materialisierung der sich wandelnden Ideen der neuen Gesellschaft verstanden werden darf, einen neuen Typ des klaren, mitteilsamen, demokratischen Bildes. Nach diesem riefen zahlreiche Vertreter verschiedenster Avantgarde-Richtungen, die sich gegenüber den traditionellen Darstellungsmodellen abgrenzen wollten. Als Schlüsselmoment für die moderne Auffassung der Fotografie gilt die Stuttgarter Ausstellung Film und Foto von 1929, auf der die ganze Bandbreite der von der zeitgenössischen Fotografie vertretenen Ansätze gezeigt wurde und die deren weitere Ausrichtung erheblich beeinflusste. Auf dem Gebiet der Tschechoslowakei waren die Diskussionen um den Charakter des fotografischen Bildes von Bedeutung, die Ende der 1920er Jahre auf den Seiten der Zeitschrift Fotografickýobzorgeführt wurden; ihr Hauptthema waren die Schärfe und die Bearbeitung des Positivs in der Postproduktion. Zugleich wurde die Stuttgarter Ausstellung reflektiert – vor allem auf Initiative Alexander Hackenschmieds, der nach ihrem Vorbild eine kleinere Ausstellung der einheimischen Fotografie im Prager Aventinum organsierte.
In der heutigen Literatur wird für einen bestimmten Typ der Fotografie der Begriff Neue Sachlichkeit verwendet (Josef Sudek – Reklamefotografie, Jaromír Funke – Arbeiten aus Kolín, Jaroslav Rössler – Bilderserien aus den 1930er Jahren, Eugen Wiškovský – Gesamtwerk), jedoch geschieht dies ohne genauere Analyse des eigentlichen Begriffs und seiner Relevanz für die Nutzung in diesem Kontext. Eigenständig wurde die Beziehung zwischen Neuer Sachlichkeit und Fotografie in der Tschechoslowakei bisher nicht untersucht, am Rande angesprochen haben sie einige Diplomarbeiten. Forschungsgegenstand im Kontext dieses Projekts ist die Reflexion der Neuen Sachlichkeit im tschechischen und im deutschböhmischen Umfeld (nicht nur im Milieu der professionellen Fotografen, sondern auch in den Amateurvereinen, wo besonders die Mitglieder der deutschsprachigen Klubs gute Verbindungen zum Geschehen in Deutschland hatten); untersucht wird auch die Frage, in welchem Maß dieser Begriff für die Fotografie verwendet werden kann und wie sich das Verhältnis zur Neuen Sachlichkeit im Kontext aller bildnerischen Medien beurteilen lässt.
Im Hinblick auf die Terminologie werden die Begriffe Neue Sachlichkeit, magischer Realismus, imaginative Kunst, metaphysische Malerei, Neoklassizismus, Verismus, soziale Kunst, Zivilismus und Primitivismus analysiert. Dabei soll an bereits durchgeführte Forschungen angeknüpft werden, um Kenntnis und Interpretation des Themas dank der eigenen Forschungsergebnisse zu den deutschsprachigen Künstlern und Künstlerinnen und unter Berücksichtigung der neuesten tschechischen Forschungen weiter zu vertiefen. Wenn in Europa Forscherteams partielle, territorial definierte Projekte zum Thema Neue Sachlichkeit bearbeiten, muss notwendigerweise auch die Situation im Zentrum Europas so erfasst werden, dass diese Forschung künftig die Rolle der tschechoslowakischen Kunstszene, die ihren Höhepunkt zwischen 1933–1938 in einer freien und offenen pluralistischen Annäherung an die Sichtweisen der bildenden Kunst fand, adäquat beurteilen kann. Zugleich wurde damals aber auch im Kreis der Deutschböhmen das Feld für einen Hitler positiv gegenüberstehenden, in Propaganda mündenden Naturalismus bereitet.
In diesem Projekt geht es nicht um eine imaginäre Konfrontation der tschechischen und der deutschsprachigen Kunstszene in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit auf formaler Basis anhand des durch die Projektrichtung definierten Werkbestands. Die durchgeführte Forschung ist vielmehr bemüht, die traditionelle, im Hinblick auf Form, Nationalität und Gender nicht selten fortbestehende einseitige Wahrnehmung der Modernität in der Kunstgeschichte der Zwischenkriegs-Tschechoslowakei zu ergänzen und teilweise auch zu revozieren. Diese Sichtweise stützt sich bisher vor allem auf die tschechische Moderne, die den Nationalstil des neu entstehenden Staates kodifizierte, und auf die französisch orientierte Avantgarde. Unberücksichtigt lässt sie dabei die sich parallel entwickelnden progressiven realistischen Tendenzen, die nach dem Ausklingen des Expressionismus die Bühne betraten und häufig mit der deutschsprachigen Kunstszene verknüpft waren.
© Ivo Habán, 2017